Wie kriege ich den Stoff durch? – Weniger ist mehr

Marie und Hannah sind befreundete Bibliothekarinnen und treffen sich zum Kaffee. Marie plant an ihrer akademischen Bibliothek eine Schulung für Studierende im ersten Semester. Hannah plant an ihrer öffentlichen Bibliothek eine Schulung für SchülerInnen der vierten Klasse. Beide haben jedoch eines gemeinsam: Sie wissen nicht, wie sie ihren Stoff in jeweils 90 Minuten unterbringen sollen.

 

Die begleitenden Lehrpersonen haben ganz eigene Wünsche, zudem wissen Marie und Hannah, dass die Informationskompetenz komplex und vielfältig ist und sowieso viel mehr als 90 Minuten Zeit verdient. Und so beklagen sich die beiden während ihrer Kaffeepause über die unmöglichen Anforderungen, die an BibliothekarInnen gestellt werden.

Hätten Sie gerade Lust, sich dazuzusetzen und mitzumachen? Verständlich, denn in einer kurzen, einmaligen Schulung ist es wirklich unmöglich, alles anzupacken, was Sie Ihrer Zielgruppe gerne vermitteln würden. Deshalb bitte ich Sie, diese Vorstellung loszulassen. Es ist die Realität: Sie können nicht alles „durchkriegen“.

 

„Aber wie werde ich alles abdecken?“ Die Wahrheit ist, du wirst es nicht, und es überhaupt zu probieren, wird Frust garantieren.


– Buchanan & McDonough, 2014, S. 19

Der erste Schritt ist die Akzeptanz dieser Tatsache. Der zweite Schritt liegt darin, sich von den Konzepten von „Stoff“ und „Vermittlung“ zu distanzieren. Die Stoffvermittlung bringt nämlich die Vorstellung mit sich, dass Sie den „Stoff“ in die Hand nehmen und einfach an Ihre Lernenden überreichen können.

Ihr oberstes Ziel ist es aber, den Kompetenzerwerb in irgendeiner Weise zu fördern – die Zielgruppe soll im Alltag handlungsfähig werden. Kompetenzen kann man jedoch nicht auswendig lernen. Sie entstehen durch eigenes Handeln. Ihre Teilnehmenden müssen aktiv werden und selbst handeln, damit sie beginnen können, eine Kompetenz zu entwickeln. Sie sind keine leeren Blätter, die Sie durch eine Wissensvermittlung mit Fähigkeiten befüllen können. Einerseits liegt das daran, dass Wissen nicht direkt vermittelt werden kann; vielmehr müssen Lernende neues und altes Wissen in ihre ganz persönlichen Wissensstrukturen integrieren. Andererseits ist Wissen nur eine Basis für Kompetenzen, welche jedoch viel mehr als nur Erinnern und Verstehen erfordern.

Deshalb gilt der Leitsatz: Weniger ist mehr. Anstatt die Veranstaltung „vollzustopfen“, sollten Sie gezielt solche Inhalte wählen, die die Grundlage für Kompetenzentwicklung bilden. Ich rate Ihnen, dafür Threshold Concepts oder auf deutsch „Schwellenkonzepte“ zu nutzen.

 

Schwellenkonzepte sind die Grundlage der Weiterentwicklung

Ein Schwellenkonzept eröffnet Lernenden eine neue, bislang unbekannte Denkweise (Buchanan & McDonough, 2017). Es lässt sie in neue Denkwelten eintreten. Schwellenkonzepte sind zielgruppenspezifisch und befinden sich an Punkten, die die bisherigen Erfahrungen von Lernenden mit einer neuen Sichtweise verknüpfen können. Solange ein Schwellenkonzept noch fremd ist, werden Lernende immer wieder stolpern, wenn sie der neuen Denkwelt begegnen. Deshalb sind unbekannte Schwellenkonzepte häufig Stolpersteine, die zu wiederholten Fehlern und Fehlkonzepten führen.

Konzepte sind abstrakte Ideen über Dinge, die uns helfen, die Dinge zu vergleichen, zu unterschieden und zu kategorisieren. Wer mit einer Katze so umgeht, wie er sonst mit seinem Hund umgeht, wird bald merken, dass er sein Verhalten anpassen muss. Entsprechend ist es wichtig, dass Lernende Konzepte grundlegend verstehen und unterscheiden können – dann können sie ihr Wissen dazu ohne Probleme konkretisieren und vertiefen.

Folgendes sind beispielhafte Schwellenkonzepte, die die Informationskompetenz betreffen und Ihnen vielleicht schon begegnet sind:

  • Suchmaschinen und Datenbanken: Teilnehmende verstehen meistens nicht, was Google von einer Datenbank unterscheidet.
  • Formate: Wenn ein Lehrer vorgibt, dass bei der Recherche keine Websites verwendet werden dürfen, werden manche Schülerinnen nicht verstehen, dass ein eBook durchaus verwendet werden darf. Studierende hingegen glauben oft, dass alles, was bei Google Scholar zu finden ist, eine wissenschaftliche Arbeit ist. Das zeigt, dass das Format eines Werkes oftmals mit seiner Herkunft verwechselt wird.
  • Autorität und Objektivität: Lernende glauben oft, dass es „gute“ und „schlechte“, „objektive“ und „subjektive“ Quellen gibt. Dass es sich hierbei jedoch um Konzepte mit endlosen diskutierbaren Graustufen handelt, wissen sie meistens nicht.

Anstatt also eine Reihe von Inhalten vorzustellen, sollten Sie den Teilnehmenden entsprechende Schwellenkonzepte erklären. Am besten lassen Sie die Teilnehmenden dabei aktiv werden, z. B. indem Sie sie über eine provokative Frage diskutieren lassen. Lassen Sie die Teilnehmenden die Grenzen ihres Wissens erleben. Dann können Sie das Schwellenkonzept einführen. Nach diesem Prinzip würden Sie z. B. in einer Veranstaltung zum wissenschaftlichen Arbeiten darauf verzichten, alle wichtigen Datenbanken vorzustellen. Besprechen Sie mit den Studierenden lieber eine Datenbank anhand eines konkreten Beispiels und erörtern Sie entsprechende Schwellenkonzepte: Was grenzt eine Datenbank von einer Suchmaschine ab? Solche vergleichenden Fragen eignen sich besonders gut, um Schwellenkonzepte zu begreifen.

 

Themen realistisch zusammenstellen

Je nach Zielgruppe, Situation und Länge der Veranstaltung werden Sie Ihre Schulung immer wieder neu planen müssen. Ich möchte Ihnen eine alltagstaugliche Methode vorstellen, um Ihre Themen zusammenzustellen.

  1. Schreiben Sie dazu im ersten Schritt alle Ihre Wünsche und Ideen sowie die Anforderungen der Lehrkräfte und des Curriculums auf, ohne sie zu ordnen.
  2. Gibt es zu der Idee auch ein passendes Schwellenkonzept? Die beiden Ideen „Suchmaschine X“ und „Suchmaschine Y“ könnten Sie z. B. in ein Schwellenkonzept zusammenfassen: Was ist eine Suchmaschine?
  3. Nehmen Sie sich dann jedes Konzept einzeln vor und gehen Sie die Leitfragen durch, die im folgenden Flowchart dargestellt sind.
Eine Grafik beschreibt die Entscheidung, ob ein Schwellenkonzept aufgenommen wird, oder nicht: Ist es nötig für die Aufgabe? Auch für diese Zielgruppe? Kann es woanders thematisiert werden?

 

Flowchart in Anlehnung an Veldof, 2006, S. 46

Am besten schreiben Sie sich, nachdem Sie jede Idee einmal auf diese Weise analysiert haben, die Priorität jeder einzelnen Idee auf. Seien Sie dabei streng und zwingen Sie sich, jede Zahl nur einmal zu verteilen: Was hat erste Priorität, was die zweite, usw.? So finden Sie für sich Klarheit und können in der Schulung flexibel reagieren, sollte sich Ihr Zeitplan doch ändern oder die Zielgruppe ein unerwartet hohes/niedriges Vorwissen mitbringen.

 

Vergessen Sie die „Stoffvermittlung“ und lassen Sie die Teilnehmenden Schwellenkonzepte erleben!

Sie haben in diesem Text erfahren, dass der Wunsch, Wissen zu vermitteln, in kurzen Schulungen ungünstig sein kann. Denn Schulungen lassen Ihnen sehr wenig Spielraum – Sie laufen Gefahr, Ihre Veranstaltung zu überladen, sodass die Lernenden demotiviert und überfordert werden. Suchen Sie lieber Schwellenkonzepte aus, welche Sie Ihre Teilnehmenden aktiv erfahren und abgrenzen lassen. Diese Schwellenkonzepte ermöglichen eine nachhaltige Änderung der Denkweise.

Zum Schluss noch eine kleine Challenge für Sie: Haben Sie bereits erste Ideen zu Schwellenkonzepten, die für eine Ihrer Zielgruppen besonders relevant sein könnten? Teilen Sie sie gerne in den Kommentaren oder in unserer Facebook-Gruppe für Teaching Librarians!

 

Literaturverzeichnis

Buchanan, H. E., & McDonough, B. A. (2017). The one-shot library instruction survival guide. ALA Editions.

Veldof, J. R. (2006). Creating the one-shot library workshop: A step-by-step guide. American Library Association.